Wie ein Kokon umhüllt uns der mit schwarzen Wollfäden gestaltete Raum, den wir betreten. Die an Spinnennetze erinnernden Gewebe schmiegen sich an die Wände, versetzen sie in Bewegung und ziehen uns immer tiefer in die tunnelartige Öffnung, die den Raum zum Durchschreiten freigibt. In das dichte Gewirr aus Fäden ist ein Arbeitsplatz eingewoben. Ein Schreibtisch, ein Stuhl aus Holz und lauter weiße Blätter, die sich in den Netzen verfangen haben. Sie sind über dem Tisch und auf dem Boden verteilt, als hätte ein Windstoß aus dem gegenüberliegenden Fenster alles durcheinander gebracht. Die Wollstrukturen legen das dynamische Moment still und lassen uns kurz innehalten, bevor sich unser Blick wieder in dem kaleidoskopartigen Gebilde verliert.
Chiharu Shiotas Fadeninstallation „A Long Day“ wurde 2015 im K21 installiert und ist zusammen mit der Arbeit „State of Being (Dress)“ in einem der Künstlerräume des Museums zu sehen, die regelmäßig von verschiedenen Künstlern bespielt werden. Die japanische Künstlerin, die seit den neunziger Jahren in Berlin lebt und arbeitet, ist für ihre raumübergreifenden Fadeninstallationen bekannt, in die sie Dinge des Alltags einwebt. Kleider, Möbel, Krankenhausbetten oder ein verbrannter Konzertflügel werden von Netzen umschlungen, die sich aus vielen Fäden generieren. In die dichte Struktur eingebettet, wirken die Dinge wie unserer Realität enthoben. Gleichzeitig scheinen sie unsere Welt mit all ihren Wechselwirkungen zwischen Mensch, Ding und Raum wiederzugeben. Das Textilgeflecht gibt die Komplexität unserer Welt wieder.
Die Verbundenheit mit dem Kosmos, die Beschäftigung mit der Wahrnehmung von Körper und Raum sind wichtige Themen in Shiotas Kunst. Bereits in ihren frühen Arbeiten umstrickte sie ihre eigene Nabelschnur und eine Ampulle mit ihrem Blut. Die Einflüsse der Performancekunst sind sichtbar – Shiota, die 1972 in Osaka geboren ist, studierte in Deutschland bei Rebecca Horn und Marina Abramovic. Ihre Hinwendung zum Werkmaterial Wolle erinnert jedoch auch an die Arbeiten von Louise Bourgeois oder der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz. Es ermöglicht Shiota, nicht nur im Raum zu arbeiten. Mit den verknüpften Geweben erfasst sie auch die Wechselbeziehungen, die Netzwerke, die unsere Welt durchdringen und legt sie für den Betrachter wirkmächtig frei. So auch in „A Long Day“. Der Schreibtisch und das Papier sind wie in einen Kokon gehüllt, den wir als Außenstehende betrachten. Die Dynamik der Fäden involviert uns jedoch auch und wir werden Teil des Interieurs. Das Interieur ist ein Ort des Privaten, an den sich das Individuum zurückzieht, um bei sich zu sein. Es ist auch ein Ort der Kreativität, wo geträumt wird und Ideen geboren werden. Die vielen Blätter, die dem Schreibtisch – ein Ort der Kreativität schlechthin – zu entspringen scheinen, geben dieser Vorstellung Ausdruck. Kreativität wird hier als ein nicht geordneter und dynamischer Prozess gedacht, dessen Energie in der Installation eingefangen wird.
Making of: Künstlerraum Chiharu Shiota im K21
Foto: Chiharu Shiota, A Long Day, 2015, Installationsansicht K21, Sunhi Mang © Kunstsammlung NRW